Es gibt keine gute Seite in diesem Krieg!
Essay: Die Rede von Slavoj Žižek auf der Frankfurter Buchmesse sorgt für Diskussion: Muss der Terror der Hamas im Kontext der Unterdrückung der Palästinenser gesehen werden? Der Philosoph hält daran fest: Wir müssen den Kontext des Bösen verstehen
Meine Rede auf der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse wurde zweimal harsch von dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Hessen Uwe Becker unterbrochen – und löste dann eine Lawine von Angriffen auf mich aus. Warum?
Zunächst einige Fakten zu meiner Rede. Ich hatte zunächst eine ganz andere Rede geschrieben, aber kurz nach dem Hamas-Anschlag wurde ich von Jürgen Boos kontaktiert, dem Direktor der Frankfurter Buchmesse, der mich bat, in meinem Vortrag auch den Krieg zu erwähnen. Wahrscheinlich erwartete man von mir, mich einfach in den Chor all derer einzureihen, die das, was die Regierung Israels tut, nun bedingungslos zu unterstützen. Meine neue Rede habe ich im Voraus an die slowenischen Organisatoren und an die Buchmesse in Frankfurt, einschließlich an Jürgen Boos, geschickt, sie enthielt keine Überraschung: Die Organisatoren kannten sie.
Warum also die Angriffe auf mich? Es hat einige Zeit gedauert, bis ich es begriffen habe: Nicht weil ich in meiner Rede zu extrem war, sondern gerade weil ich sehr ausgewogen und gemäßigt war, wurde ich angegriffen. Es ist leicht, jemanden zu verurteilen, der „Tod für Israel“ skandiert – viel leichter als jemanden, der den Hamas-Anschlag bedingungslos verurteilt und gleichzeitig auf dessen Hintergründe aufmerksam macht.
Schließlich könnte ein solcher Ansatz einige dazu verleiten, auch das palästinensische Leid zu sehen. Dass ich dabei einige jüdische Personen zitiert habe, auf die ich mich positiv bezog, darunter Moshe Dayan, Simon Wiesenthal oder Marek Edelman, hat einige Kritiker wohl zusätzlich verärgert. Ich habe aber auch einige wütende Nachrichten von Palästinensern aus dem Westjordanland erhalten. Sie sind wütend, weil ich nicht ausdrücklich gesagt habe, dass sie angesichts dessen, was jetzt mit den Palästinensern geschieht, nicht im Opferdasein verharren können: Haben die Menschen im Westjordanland nicht auch ein Recht auf Wut?
Meine eigene Wut richtet sich im Moment eher auf Antisemitismusbeauftragte, die im Namen Deutschlands eine schlimme Strategie fahren: Diejenigen aus dem Land, das den Holocaust begangen hat, versuchen nun, sich von ihrer Schuld zu entlasten, indem sie das israelische Unrecht an einer anderen Gruppe befürworten! Die deutsche Besessenheit, auf der richtigen Seite zu stehen, bekommt derzeit eine dunkle Kehrseite.
Die Dummheit des Jahres: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“
Nun zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit meiner Rede. Hier ist eine der vielen Reaktionen darauf in den Medien: „Der populäre slowenische Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek sorgte während der Eröffnungszeremonie für einen Skandal“, schreibt die ukrainische Medienplattform The Gaze. „Žižek verurteilte den Terroranschlag der palästinensischen islamistischen Bewegung HAMAS auf Israel und betonte die Notwendigkeit, ‚den Palästinensern zuzuhören und ihre Vergangenheit zu berücksichtigen.’“
Zunächst stelle ich fest: Der letzte Teilsatz in Anführungszeichen ist kein Zitat aus meinem Text, obwohl er als Zitat dargestellt wird. Zweitens: Ja, es gab einen Skandal, aber war es wirklich ich, der ihn verursacht hat? War der wahre Skandal nicht die Art und Weise, wie meine Rede zweimal lautstark unterbrochen wurde – und diese Unterbrechungen wofür, weil ich was genau getan habe? Ich wurde dafür unterbrochen, dass ich nur das Offensichtliche gesagt habe, was wir jeden Tag in unseren Medien lesen und sehen können: dass es keine Lösung für die Krise im Nahen Osten gibt, ohne den Schwebezustand der Palästinenser zu beenden.
Der Hauptkandidat für die Dummheit des Jahres ist meiner Meinung nach eine Zwischenüberschrift in einem kürzlich erschienenen Text in der Zeit: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“. Was damit gemeint ist, wurde in Behauptungen deutlich, die ich in Frankfurt immer wieder zu hören bekam: „Es gibt hier keine zwei Seiten. Es gibt nur eine Seite.“
Es wurde auf dem Podium von Meron Mendel, Doron Rabinovici und Tomer Dotan-Dreyfus sogar offen über die Ablehnung des Wortes „Aber“ diskutiert. Aber: Ist „aber“ nicht die höfliche Art, in einem Dialog zu widersprechen, also in den Dialog zu treten? „Ich sehe und respektiere Ihren Standpunkt, aber …“ Wie können wir den Konflikt im Nahen Osten verstehen, ohne all die Abers darin zu sehen, die Widersprüche und Antworten „der einen Seite“ darauf?
Der Kontext des Antisemitismus
Eine Analyse des Kontextes eines Massakers oder eines Krieges bedeutet keine Entschuldigung oder Rechtfertigung. Es gibt zahlreiche Analysen darüber, wie die Nazis an die Macht kamen, und sie rechtfertigen Hitler in keiner Weise, sondern beschreiben nur die verworrene wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Situation, die Hitler ausnutzte, um die Macht zu übernehmen. Hitler erschien nicht plötzlich aus einem Vakuum. In den 1920er und 1930er Jahren bot er den Antisemitismus als Erklärung für die Probleme der Deutschen an: Arbeitslosigkeit, moralischer Verfall, soziale Unruhen. Die Vorstellung eines „jüdischen Komplotts“ als Erklärung schien all das zu sortieren, indem sie eine einfache „kognitive Zuordnung“ ermöglichte.
Funktioniert der heutige Hass auf den Multikulturalismus und die Bedrohung durch die Geflüchtete und Migrant*innen nicht in ähnlicher Weise? Es geschehen merkwürdige Dinge, es kommt zu finanziellen Zusammenbrüchen und wirtschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen, die unser tägliches Leben beeinflussen, die aber als völlig undurchsichtig empfunden werden. Die Ablehnung des Multikulturalismus bringt eine falsche Klarheit in die Situation: Es sind die ausländischen Eindringlinge, die unsere Lebensweise stören.
Warum vergleiche ich die radikale Hamas mit der radikalen Haltung der Netanjahu-Regierung?
Historische Vergleiche, die den Nationalsozialismus betreffen, sollen prinzipiell abgelehnt werden, ich komme später auf die Einzigartigkeit des Holocaust zurück. Aber der Vergleich einzelner politischer Entwicklungen kann helfen, aus der Geschichte zu lernen. Und damit zurück zu meiner Rede, denn auch hier hat ein Vergleich für Empörung gesorgt, und zwar meine Erwähnung der seltsamen Ähnlichkeit zwischen der radikalen Hamas und der radikalen Haltung der letzten Netanjahu-Regierung. Hier ist das Zitat aus meiner Rede:
„Ismail Haniyeh, der Führer der Hamas, der bequem in Dubai lebt, sagte am Tag des Angriffs: ‚Wir haben euch nur eines zu sagen: Verschwindet aus unserem Land. Geht uns aus den Augen … Dieses Land gehört uns, Jerusalem gehört uns, alles hier gehört uns … Es gibt keinen Ort und keine Sicherheit für euch.‘ Klare und ekelhafte Worte. Aber hat die israelische Regierung nicht etwas Ähnliches gesagt, wenn auch nicht auf so brutale Weise? Ich verweise nochmals auf das erste der offiziellen ‚Grundprinzipien‘ der gegenwärtigen israelischen Regierung: ‚Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, im Negev, auf dem Golan und in Judäa und Samaria – fördern und entwickeln.‘ Oder, wie Netanjahu erklärte: ‚Israel ist nicht ein Staat aller seiner Bürger‘, sondern ‚des jüdischen Volkes – und nur dieses‘. Schließt dieses ‚Prinzip‘ nicht jegliche ernsthafte Verhandlungen aus? Die Palästinenser werden strikt als Problem behandelt, der Staat Israel hat ihnen nie Hoffnung gemacht und ihre Rolle in dem Staat, in dem sie leben, positiv umrissen. Unter all der Polemik darüber, ‚wer mehr Terrorist ist‘, liegt wie eine schwere dunkle Wolke die Masse der palästinensischen Araber, die jahrzehntelang in einem Schwebezustand gehalten werden und täglich Schikanen durch Siedler und den israelischen Staat ausgesetzt sind. (…) Vielleicht muss man als erstes die massive Verzweiflung und Verwirrung klar erkennen, die zu Taten des Bösen führen kann. Es wird keinen Frieden im Nahen Osten geben, wenn die palästinensische Frage nicht gelöst wird.“
Soweit meine Rede. Mir wurde hier vorgeworfen, eine entscheidende Tatsache zu ignorieren. Die israelische Regierung sage nicht einfach dasselbe wie die Hamas in einer zivilisierteren Weise, sondern es gäbe auch einen wichtigen Unterschied im Inhalt: Die israelische Regierung fordert nicht das wahllose Umbringen aller ihrer Gegner – und ermordet auch nicht tatsächlich wahllos ihre Gegner. Das stimmt, und das ist ein wichtiger Unterschied.
Es gibt jedoch einen weiteren Unterschied: Während die Hamas und ihre Verbündeten verkünden, die Juden aus dem israelischen Land zu vertreiben, arbeitet Israel tatsächlich an solch einer Vertreibung, indem es die Palästinenser im Westjordanland schrittweise, aber unaufhaltsam ihres Landes beraubt. Sogar die USA haben sich besorgt über die Angriffe der Siedler auf Palästinenser im Westjordanland geäußert, Staatssekretär Antony Blinken hat seine „Besorgnis“ darüber zum Ausdruck gebracht und, wie zu erwarten war, die Zusage erhalten, dass Israel der Sache „nachgehen wird“. Wie dies mit Itamar Ben Gvir als Minister für Nationale Sicherheit geschehen soll, ist derweil nicht klar. Ben Gvir kündigte am 10. Oktober 2023 an, 10.000 Gewehre für bewaffnete zivile Sicherheitsteams zu beschaffen, die in Städten nahe der israelischen Grenzen sowie in gemischten jüdisch-arabischen Städten – und in Siedlungen im Westjordanland eingesetzt werden sollen.
Die Scheinwerfer der Medien zeigten zu lange nicht auf Gaza Soweit ich weiß, hat niemand die Fakten bestritten, auf die ich mich in meiner Rede beziehe. Das Hauptgegenargument war, dass dieser Zeitpunkt, an dem Juden in Israel massenhaft sterben – und andernorts, auch in Europa, bedroht werden – nicht der richtige für eine grundlegende Analyse des Konflikts im Nahen Osten sei. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich dieses Argument hörte, denn „zu diesem Zeitpunkt“, also zehn Tage nach dem verheerenden Hamas-Angriff, waren bereits mehr Palästinenser gestorben als jüdische Israelis. Aber es stimmt: Zu anderen Zeitpunkten zuvor habe ich das Grauen, das sich in Gaza abspielte, ignoriert. Warum habe ich es so lange ignoriert?
Erinnern Sie sich an die allerletzten Zeilen von Brechts Dreigroschenoper: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Das ist (vielleicht mehr denn je) unsere Situation heute, im selbsternannten Zeitalter der modernen Medien: Während die großen Medien bis vor kurzem voll mit Nachrichten über den noch immer fortdauernden Ukraine-Krieg waren, wurde über andere, teils tödlichere Kriege der Welt nicht oder kaum berichtet. Jetzt, da die Scheinwerfer auf den Nahen Osten gerichtet sind, kann man nicht umhin festzustellen, dass sie fast ausschließlich auf den Gazastreifen gerichtet sind, und noch immer nicht auf das Westjordanland, wo womöglich gerade etwas viel Entscheidenderes vor sich geht. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin entsetzt darüber, dass die Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee IDF mehr „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung verursacht als an den Hamas-Kräften selbst, aber ich gehe nicht davon aus, dass Israel den Gazastreifen wieder besetzen will. Ich gehe davon aus, das Ereignis, das die Geschichte im Nahen Osten langfristig prägen könnte, findet derzeit und schon seit Jahren im Westjordanland statt: Es ist die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zugunsten israelischer Besiedlung.
Ich kann Judith Butler nur beipflichten, die in ihrem Text im Freitag und in der London Review of Books in einem eindrücklichen Zitat die Gewalt beschreibt: „Von der systematischen Beschlagnahmung von Land bis zu routinemäßigen Luftangriffen, von willkürlichen Verhaftungen bis zu militärischen Kontrollpunkten, von erzwungenen Familientrennungen bis zu gezielten Tötungen sind die Palästinenser gezwungen, in einem Zustand des langsamen und plötzlichen Todes gleichermaßen zu leben.“
Der Terror israelischer Siedler im Westjordanland
Unter der neuen Netanjahu-Regierung nahm dieser Druck auf Palästinenser in der Westbank enorm zu. Unter Dutzenden von Videoclips, die derzeit kursieren, möchte ich nur einen erwähnen. Es ist bei Weitem nicht das gewalttätigste, aber zumindest für mich das deprimierendste Video. Es zeigt einen Siedler, der eine Gruppe palästinensischer Bauern, die auf ihrem Land arbeiten, demütigt und beschimpft, indem er behauptet, das Land gehöre ihnen nicht, er öffnet ihre Säcke mit Saatgut und verstreut es, er stellt sich provokativ Brust an Brust vor die Palästinenser und ruft: „Warum schlägst du mich nicht? Bist du ein Mann?“ All diese Drohgebärden passieren in der stillen Gegenwart einiger beobachtender, bewaffneter israelischer Soldaten im Hintergrund. Können wir uns vorstellen, was passiert wäre, wenn ein palästinensischer Bauer dies mit einer Gruppe von israelischen, jüdischen Siedlern gemacht hätte?
Das ist nur ein Detail. Es passieren auch andere Dinge: Gruppen von Siedlern schicken palästinensischen Häusern die Drohung, dass sie ihre Wohnung in den nächsten 24 Stunden räumen sollen, und wenn sie das nicht tun, kommen die Siedler und greifen die Familien an. Am 12. Oktober wurden zwei Palästinenser getötet, als israelische Siedler das Feuer auf einen Trauerzug in der Nähe der Westbankstadt Qusra, südlich von Nablus, eröffnet hatten. „Krankenwagen transportierten die Leichen von vier Palästinensern, die einen Tag zuvor erschossen worden waren, Berichten zufolge ebenfalls von israelischen Siedlern, als Siedler am Tatort eintrafen und versuchten, den Beerdigungszug aufzuhalten“, schreibt die Times of Israel. Einer der Fahrer des Krankenwagens wurde von der israelischen Zeitung Haaretz mit den Worten zitiert, dass „die Siedler dort gewartet hätten. Sie blockierten das Tor und begannen, auf uns und andere Menschen, die zur Beerdigung gekommen waren, zu schießen.“
Die offizielle Reaktion? Die israelischen Verteidigungskräfte IDF teilten mit, dass nach Zusammenstößen zwischen Siedlern und Palästinensern in dem Dorf, in dem die Beerdigung stattfinden sollte, mehrere palästinensische Opfer zu beklagen seien und „dass der Vorfall untersucht werde.“ Im vergangenen Jahr gab es wiederholt Vorfälle, bei denen junge Siedler gewaltsam in Dörfer eindrangen und dabei mehrere Palästinenser töteten, zahlreiche Menschen verletzten und erheblichen Sachschaden anrichteten. Die Angreifer werden selten verhaftet, geschweige denn für ihre Taten belangt.
Im Februar dieses Jahres jagte ein aggressiver Mob israelischer Siedler mit Knüppeln und Schusswaffen durch die Straßen der palästinensischen Stadt Huwara nahe Nablus und umliegende Dörfer. Ein Palästinenser starb, mehrere Hundert wurden verletzt. Es ist nur einer vieler gewaltsamer Übergriffe, bei denen manchmal ein, zwei, drei Palästinenser sterben, jeder Vorfall für sich löste keine weltweite Empörung aus. Seit 2008 haben israelische Streitkräfte und Siedler im Westjordanland und im Gazastreifen aber fast 3.800 palästinensische Zivilisten getötet – bis zum Ausbruch des derzeitigen Krieges. Wenn dies keine Form von Terror ist, dann hat dieses Wort überhaupt keine Bedeutung.
Gewalt gegen Palästinenser wird gutgeheißen Solange die traditionelle säkulare zionistische Siedler-Kolonialideologie vorherrschte, privilegierte der Staat (mehr oder weniger) diskret seine jüdischen Bürger gegenüber den Palästinensern; er unternahm jedoch große Anstrengungen, um den
Anschein einer neutralen Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Von Zeit zu Zeit verurteilte er zionistische Extremisten für ihre Verbrechen gegen Palästinenser, und er begrenzte die illegalen neuen Siedlungen im Westjordanland. Die wichtigste Behörde dafür war der Oberste Gerichtshof. Nun setzte die Regierung Netanjahu, die 2022 an die Macht kam, eine Justizreform durch, die den Obersten Gerichtshof seiner Autonomie beraubte. Die massiven Proteste gegen die Justizreform aus der israelischen Zivilgesellschaft waren womöglich der letzte Schrei des säkularen Zionismus: Mit der neuen Netanjahu-Regierung wird die antipalästinensische Gewalt nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.
Zur Erinnerung: Bevor der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir in die Politik ging, hing in seinem Wohnzimmer ein Porträt des israelisch-amerikanischen Terroristen Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron neunundzwanzig palästinensisch-muslimische Gläubige massakrierte und 125 weitere verletzte, was als Massaker in der Höhle der Patriarchen bekannt wurde. Der Staat Israel, der sich gerne als die einzige Demokratie im Nahen Osten präsentiert, hat sich de facto in einen „halachischen theokratischen Staat (das Äquivalent zur Scharia) verwandelt“, wie der Professor Jamil Khader der Bethlehem Universität nach der Hetzjagd von Huwara schreibt.
Khader erklärt in diesem Text seine Theorie zum „Surplus-Genuss“, dem „Lustgewinn“ (surplus enjoyment) im Zusammenhang mit antipalästinensischer Gewalt: Im Lacan’schen Sinne funktioniert diese obszöne Gewalt als Surplus-Genuss, den wir als Belohnung für unsere Unterordnung unter eine ideologische Struktur erhalten, für die Opfer und den Verzicht, die diese Struktur von uns verlangt. Jamil Khader schreibt: „In diesem extremistischen messianisch-zionistischen Diskurs wird der Surplus-Genuss (wie das Töten von Palästinensern, das Verbrennen ihrer Häuser, die Vertreibung aus ihren Häusern, die Konfiszierung ihres Landes, der Bau von Siedlungen, die Zerstörung ihrer Olivenbäume, die Judaisierung der Al-Aqsa, und so weiter) ausdrücklich artikuliert. Während diese Formen des Genusses früher im offiziellen zionistischen Diskurs als Ausnahme betrachtet wurden, gelten sie jetzt als Norm.“
Wenn, wie ich ebenfalls schon erwähnte, der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir im August 2023 im Fernsehen sagt: „Mein Recht, das Recht meiner Frau und das Recht meiner Kinder, sich auf den Straßen von Judäa und Samaria [Westjordanland] frei zu bewegen, ist wichtiger als das der Araber“ – dann hatte er damit Recht. Ja, das ist die Realität im Westjordanland. Die Vertreibung der Palästinenser wird nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.
Die Rede von António Guterres – und die zynische Reaktion darauf Und wenn politisch denkende Menschen dies im Zusammenhang mit dem brutalen Massaker der Hamas erwähnen, dann geht es nicht um eine Rechtfertigung von Gewalt, sondern um den Versuch, den Kontext solch eines Gewaltausbruchs zu erkennen – wie sonst soll zukünftige Gewalt verhindert werden? In diesem Kontext verstehe ich die Worte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen António Guterres, der am 24. Oktober 2023 vor dem UN-Sicherheitsrat sagte: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattgefunden haben. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihre Notlage haben sich in Luft aufgelöst. Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die schrecklichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese schrecklichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.“
Die Reaktion war nicht nur wütende Kritik; eine Petition fordert gar den Rücktritt von Guterres: „Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat jetzt sein wahres Gesicht gezeigt und der Welt bewiesen, dass er voreingenommen und zwiespältig ist und nicht die richtige Person, um die Vereinten Nationen durch diese angespannte Phase in der Geschichte unserer Welt zu führen“, heißt es darin. Der Zynismus der Petition zur Forderung seines Rücktritts ist beeindruckend: „Das israelische Volk (Juden, Muslime, Christen, Drusen und Beduinen) hat einen schweren Terroranschlag erlitten.“ Während die israelische Regierung Nicht-Juden ausdrücklich als Bürger zweiter Klasse behandelt, werden sie nun plötzlich als Opfer der Hamas angesprochen?
Die Hamas muss vernichtet werden
Aber verlieren wir uns nicht in einer falschen Aufspaltung der Seiten, in jene, die nur „die eine Seite“ oder die nur „die andere Seite“ sehen wollen (und die jeweils andere Seite mit dem Argument ausblenden, die eine Seite auf diese Weise besser zu sehen). Um einen Ausweg zu finden, muss man sich zunächst voll und ganz eingestehen, dass wir es mit einer wahren Tragödie zu tun haben. Es gibt keine klare, einfache Lösung, außer der von Ben Gvir und der Hamas propagierten: die Vernichtung der anderen Seite.
Diese vermeintlich klare, zutiefst unmenschliche Lösung ist nicht akzeptabel. Meine Verurteilung des Hamas-Angriffs ist daher klar und unmissverständlich. Nicht umsonst lautet der Titel meines Interviews in der Zeit: „Die Hamas muss vernichtet werden“. Ihr Massaker war schrecklich. Jenes Gebiet östlich des Gazastreifens, in dem die Hamas mordete, war größtenteils von Jüdinnen und Juden bewohnt, die für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern eintraten, einige von ihnen engagierten sich sogar für die Leidtragenden in Gaza.
Warum spreche ich von einer Tragödie? Weil die Hamas das Ergebnis von all jenen ist, die die Frage Israels und Palästinas mit Gewalt klären wollen. Die Times of Israel berichtet davon, dass die israelische Politik unter Netanjahu über Jahre darauf ausgerichtet war, „die Palästinensische Autonomiebehörde als Last und die Hamas als politisch von Vorteil zu betrachten“. Der rechtsextreme Bezalel Smotrich, jetzt Finanzminister in der Hardliner-Regierung und Vorsitzender der Partei des Religiösen Zionismus, habe dies im Jahr 2015 selbst gesagt.
Verschiedenen Berichten zufolge habe sich Netanjahu Anfang 2019 auf einer Fraktionssitzung des Likud in ähnlicher Weise geäußert, als er etwa mit den Worten zitiert wurde, „dass diejenigen, die gegen einen palästinensischen Staat sind, den Transfer von Geldern nach Gaza unterstützen sollten, weil die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und der Hamas in Gaza die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern würde“.
Kurz gesagt: Israel hat hier denselben Fehler gemacht wie die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan, als sie radikale Islamisten wie Osama bin Laden unterstützten, um das von der Sowjetunion unterstützte Regime zu besiegen.
Wir dürfen nicht zwischen der Hamas und Netanjahu wählen
Der israelische Historiker Yuval Harari hat Recht, wenn er betont, dass das Hauptziel des Hamas-Angriffs nicht nur die Ermordung von Juden war, sondern auch die Verhinderung jeglicher Friedenschancen in absehbarer Zukunft. Dieser Krieg wurde von der Hamas mit dem Ziel begonnen, den Krieg selbst zu verewigen. Und Harari hat Recht, wenn er hinzufügt, dass Israel diese von der Hamas gestellte Falle vermeiden sollte, denn „auf lange Sicht wird es nur dann Frieden geben, wenn die Palästinenser in ihrem Heimatland ein würdiges Leben führen können“. Es ist wichtig, die Worte „in ihrem Heimatland“ zu betonen: Harari akzeptiert hier, dass das von Israel besetzte Land auch das palästinensische Heimatland ist.
Um es bewusst naiv zu formulieren: Israel sollte seine palästinensischen Bürger wie seine eigenen Bürger behandeln. Zur Empörung vieler meiner „linken“ Kritiker stimme ich mit der zentralen Aussage eines Briefes überein, den Harari zusammen mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman und anderen unterzeichnet hat: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der israelischen Unterwerfung und Besetzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.“
Ich habe in meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse genau das Gleiche gesagt, wie ich es auch hier im Freitag schon geschrieben hatte: „Man sollte in beiden Richtungen bis zum Ende gehen, sowohl bei der Verteidigung der palästinensischen Rechte als auch beim Kampf gegen den Antisemitismus. Die beiden Kämpfe sind zwei Momente desselben Kampfes. (…) Diejenigen, die denken, dass es einen ‚Widerspruch‘ in dieser meiner Haltung gibt, leiden unter einer völligen moralischen Desorientierung.“
Über linke Irrwege: Israel ist nicht die Ukraine, Donezk ist nicht das Westjordanland In Ljubljana, meiner Heimatstadt, habe ich ein Graffiti an einer Wand gesehen: „Wenn ich ein Palästinenser aus dem Westjordanland wäre, wäre ich auch ein Holocaust-Leugner.“ Genau das ist die Logik, die man auf gar keinen Fall übernehmen darf. Man darf auch ihr Pendant nicht übernehmen: „Ein jüdischer Israeli, deren Vorfahren im Holocaust verfolgt oder brutal ermordet wurden, hat das Recht, jene Ungerechtigkeiten, die der Staat Israel gegenüber Palästinensern begeht, zu ignorieren.“
Solche Logiken führen auch zu seltsamen Verwischungen der Identifikation in globalen Konflikten. Der pro-israelische Westen (insbesondere die USA) stellt nun die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression und die Verteidigung Israels gegen die Hamas als Momente desselben globalen Krieges dar, als ob Israel = Ukraine wäre. Auf der gegenüberliegenden pseudolinken Seite wird bereits behauptet, dass die Angriffe Russlands und die Angriffe der Hamas beide als gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahmen anzusehen sind, die nach einer langen Geschichte der Unterdrückung explodiert sind – als wäre Donezk das russische Westjordanland.
Warum ich den Begriff „Pseudolinke“ verwende? Weil ich in einer alten marxistischen Tradition daran festhalte, dass die Linke strukturell nicht antisemitisch sein kann, da sie weiß, dass Antisemitismus auf dem grundlegenden ideologischen Vorgang beruht, immanente soziale Antagonismen auf einen externen Akteur zu übertragen – der liquidiert werden soll. Das ist auch der Grund, warum Populismus (auch: pseudolinker Populismus) dazu neigt, antisemitisch zu sein: Populismus stellt nicht den Antagonismus in Frage, der der grundlegenden sozialen Ordnung eingeschrieben ist, sondern konzentriert sich auf „Korruption“, einzelne scheinbar „mächtige“ Personen in wichtigen Positionen und Ähnliches. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es in der heutigen Linken tatsächlich antisemitische Tendenzen gibt, und diese sind ein verlässliches Signal dafür, dass mit dieser Linken etwas zutiefst falsch läuft. Das gilt von Stalin bis Hugo Chávez in Venezuela, der übrigens von keinem Geringeren als Fidel Castro ermahnt wurde, Antisemitismus
nicht zu reproduzieren.
Warum ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte In Zeiten dieses schleichenden Antisemitismus wird der Krieg gegen Gaza von manchen genutzt, um jüdische Personen oder den Staat Israel für alle möglichen globalen Probleme verantwortlich zu machen. Etwas anderes ist es, den Konflikt im Nahen Osten in Verbindung zur Politik des Staates Israel zu bringen, der ja tatsächlich ein zentraler Akteur in diesem Konflikt ist. Daher, ein letztes Mal, zurück zu meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse – und der Debatte, die darauf folgte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wusste man über die Reaktion des Frankfurter Oberbürgermeisters zu berichten: „’Die Rede hat vor Ort irritiert‘, sagte Mike Josef der F.A.Z. ‚Ich bin kurzzeitig aus dem Saal gegangen, um mit anderen Magistratsmitgliedern zu sprechen.‘ Die Meinungsfreiheit sei wichtig. ‚Und es ist auch notwendig, Debatten anzustoßen, in denen alle Sichtweisen berücksichtigt werden. Jedoch wurde mit dem Heydrich-Zitat eine Grenze überschritten, die über Provokation hinausgeht. Das war falsch.’“
Tatsächlich wurde meine Rede zum zweiten Mal unterbrochen, als ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte. Mir wurde unterstellt, ich würde Heydrich mit der politischen Position der Regierung Israel in eine Linie stellen. Diese Unterstellung geht aber völlig an dem Punkt vorbei, den ich in meiner Rede machte.
Warum habe ich Heydrich erwähnt? Ich habe einen Gedankengang vorgetragen, den ich auch schon in meinen Büchern und Vorträgen (übrigens auch in Tel Aviv, wo er ohne Probleme angenommen wurde) entwickelt habe. Was mich dabei beschäftigt: Heutzutage scheint ein seltsames Phänomen wieder aufzutauchen, das wir aus der Vergangenheit kennen. Während Donald Trump in seiner Zeit als US-Präsident Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannte, sind einige seiner Anhänger wie etwa die rechtsextremen Proud Boys offen antisemitisch. Ähnliches scheint sich auch in der deutschen AfD zu finden. Ist hier wirklich ein Widerspruch?
Als Trump die umstrittene Verordnung gegen Antisemitismus an Universitäten unterzeichnete, war John Hagee anwesend, ein bekannter US-amerikanischer Evangelist, der Gründer und Vorsitzende der christlich-zionistischen Organisation Christians United for Israel. An der Spitze der christlich-konservativen Standardagenda äußerte sich Hagee eindeutig antisemitisch: Er hat den Juden selbst die Verantwortung für den Holocaust zugeschoben; er hat erklärt, dass die Judenverfolgung unter Hitler ein „göttlicher Plan“ war, um die Juden dazu zu bringen, den modernen Staat Israel zu gründen; er nennt liberale Juden „vergiftet“ und „geistig blind“. Man sollte sehr misstrauisch sein gegenüber einer solchen vergifteten Unterstützung des Staates Israel, die eine lange Tradition hat.
Der zionistische Antisemitismus des Anders Breivik Antisemitisch und gleichzeitig pro-israelisch, diese Haltung kennen wir auch von Anders Breivik, dem rassistischen, einwanderungsfeindlichen Massenmörder aus Norwegen. Im Staat Israel sah Breivik die erste Verteidigungslinie gegen die „muslimische Expansion“, er möchte den Jerusalemer Tempel wieder aufgebaut sehen, aber er schrieb in seinem „Manifest“ auch: „Es gibt kein jüdisches Problem in Westeuropa (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und Frankreichs), da wir nur eine Million [Juden] in Westeuropa haben, wobei 800.000 von dieser einen Million in Frankreich und dem Vereinigten Königreich leben. Die USA hingegen haben mit mehr als 6 Millionen Juden (600 Prozent mehr als in Europa) tatsächlich ein beträchtliches jüdisches Problem.“
Die Figur Breivik verkörpert somit das ultimative Paradoxon des zionistischen Antisemiten – und ich fand die Spuren dieser seltsamen Haltung historisch in dem Nazi Reinhardt Heydrich, einem der Drahtzieher des Holocausts, der 1935 schrieb: „Wir müssen die Juden in zwei Kategorien einteilen: die Zionisten und die Assimilationsbefürworter. Die Zionisten bekennen sich zu einem streng rassischen Konzept und helfen durch die Auswanderung nach Palästina, ihren eigenen jüdischen Staat aufzubauen. / … / unsere guten Wünsche und unser offizielles Wohlwollen sollen mit ihnen gehen.“ (Zitiert nach Heinz Höhne: The Order of the Death’s Hand. The Story of Hitler’s SS) Das ist zionistischer Antisemitismus in seiner reinsten und deutlichsten Form. Nun stellt sich die Frage, ob diese Form heutzutage eine relevante Rolle spielt, jenseits christlicher Fundamentalisten in den USA oder verirrter Rechtsextremer in Europa.
Die Diskussion über Apartheid in der Westbank
Die Folgen des extremistischen zionistischen Siedlungsprojekts im Westjordanland jedenfalls sollten jedem Linken Sorgen bereiten, denn sie bereiten bereits ehemaligen israelischen Generälen Sorgen. Selbst Amiram Levin, ein ehemaliger israelischer General, ehemaliger Chef des Nordkommandos der israelischen Armee und stellvertretender Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, sagte in einem Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen israelischen Sender Kan über die Lage im Westjordanland: „Seit 57 Jahren gibt es dort keine Demokratie mehr, es herrscht totale Apartheid“. Wohlgemerkt, wenn Levin von Apartheid spricht, bezieht er sich dabei nicht auf das ganze israelische Staatsgebiet, sondern auf die Westbank. Er sagt weiter: „Die israelische Armee, die gezwungen ist, dort Souveränität auszuüben, verrottet von innen heraus. Sie steht daneben, während Siedler randalieren, schaut ihnen zu und beginnt, sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen.“ Auf die Frage nach der Art der „Vorgänge“ verwies Levin auf die Zeit der Rassengesetze in Nazideutschland. „Es ist schwer für uns, das auszusprechen, aber es ist die Wahrheit. Gehen Sie durch Hebron und sehen Sie sich die Straßen an. Straßen, auf denen Araber nicht mehr gehen dürfen, nur noch Juden. Das ist genau das, was dort passiert ist, in jenem dunklen Land.“
Es muss hier wohl kaum erwähnt werden, dass die Situation der Palästinenser in Hebron und der Situation von Juden im Nazi-Deutschland nicht gleichgesetzt werden kann. Ungerechtigkeit, apartheidsähnliche Regeln, einzelne Morde und Vertreibung sind nicht mit den Gaskammern des Holocaust zu vergleichen. Wenn aber ein Jude, der weiß, was der Nazi-Antisemitismus bedeutet, solche Parallelen anstellt, wird es ihm sehr ernst damit sein, das, was im Westjordanland vor sich geht, als äußerst gefährliche Tendenz zu beschreiben. Solange es Menschen wie Amiram Levin gibt, gibt es Hoffnung. Nur mit ihrer Solidarität und Unterstützung haben die Palästinenser im Westjordanland eine Chance.
Wo das Böse absolut ist, gibt es keine Guten
Die Lehre aus all dem ist jedoch eine sehr traurige. In einer denkwürdigen Passage in Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered beschreibt Ruth Klüger ein Gespräch mit Doktoranden in Deutschland: „Einer berichtet, wie er in Jerusalem die Bekanntschaft eines alten ungarischen Juden machte, der Auschwitz überlebt hatte, und dieser Mann verfluchte die Araber und verachtete sie alle. Wie kann jemand, der aus Auschwitz kommt, so reden? fragt der Deutsche. Ich schalte mich ein und argumentiere, vielleicht etwas heftiger als nötig. Was hat er denn erwartet? Auschwitz war keine Lehranstalt … Man hat dort nichts gelernt, schon gar nicht Menschlichkeit und Toleranz. Aus den Konzentrationslagern kam nichts Gutes, höre ich mich sagen, und meine Stimme erhebt sich, und er erwartet eine Katharsis, eine Läuterung, etwas, wofür man ins Theater geht? Es waren die nutzlosesten und sinnlosesten Einrichtungen, die man sich vorstellen kann.“
Vor einigen Jahren gab es in Deutschland eine Debatte darüber, was schlimmer war: der Holocaust oder der Kolonialismus? Ich meine, dass solch eine Debatte als zutiefst obszön zurückgewiesen werden muss. Der Holocaust war ein einzigartiges, schreckliches Mega-Verbrechen. Der Kolonialismus hat unvorstellbare Mengen an Tod und Leid verursacht. Der einzig richtige Weg, sich diesen Schrecken zu nähern, besteht darin, den Kampf gegen Antisemitismus und gegen Kolonialismus heute als Teile ein und desselben Kampfes zu betrachten. Wer die Einzigartigkeit des Holocausts relativiert, beleidigt die Opfer der Kolonisierung, und wer den Kolonialismus als das kleinere Übel abtut, beleidigt die Opfer des Holocaust, indem er ein jeweils unerhörtes Grauen als Druckmittel für geopolitische Spiele instrumentalisiert. Der Holocaust ist nicht ein Verbrechen in einer Reihe von Verbrechen, er war auf seine Weise einzigartig. Genauso wie die moderne Kolonisierung ein atemberaubender Horror war, der im Namen der Zivilisierung anderer getan wurde. Wir sprechen von unvergleichlichen Ungeheuerlichkeiten, die nicht auf bloße Beispiele reduziert werden können, um in politischen Debatten „verglichen“ und instrumentalisiert zu werden. Jedes von ihnen ist in gewisser Weise „absolut“ in seinem Bösen.
Die Lektion, die wir hier ziehen müssen, ist eine tragische. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass extreme Erfahrungen etwas Emanzipatorisches haben, dass sie uns in die Lage versetzen, das Chaos zu beseitigen und unsere Augen für die letzte Wahrheit einer Situation zu öffnen. Das gilt auch für die Opfer des Hamas-Massakers, und das gilt auch für die unterdrückten Palästinenser. Es gibt keine Helden, keine „Guten“ in diesem Konflikt, auch wenn manche Linke sie sich gerne herbeifantasieren.
passiert am 26.10.2023